Religion erlebt: Ein heiliger Abend

Diese Woche war ich mal wieder bei meiner türkischen Gastfamilie in Izmir zu Besuch. Inzwischen bin ich wirklich eine Tochter geworden. Wenn ich komme, kriege ich erstmal drei dicke Schmatzer von Nilüfer Hanim auf die Wangen und danach Schlüssel und Buskarte in die Hand gedrückt: „Hier Mädchen, du kannst kommen und gehen, wann du willst.“

Dieses mal war ich in Izmir, weil ich eine Wohnung suche. Mein kleiner Gastbruder, der zur Zeit Uniferien hat, hat sich mit mir stoisch-cool alle hässlichen Löcher und schönen Apartments angesehen. Kein Weg war ihm zu weit, kein Telefonat beim Immobilienhändler zu blöd. Ich weiß gar nicht, wie ich diese Hilfe jemals angemessen „zurück geben kann.“ Kochen kann ich jedenfalls nicht, denn das wäre eher eine Beleidigung.

Einladung zum muslimischen Ritual

In diese Zeit fiel auch ein heiliger Abend im muslimischen Glauben. Meine Familie ist streng gläubig. Die Mädchen tragen alle Kopftuch, die Männer gehen jeden Freitag in die Moschee.

An diesem Morgen kündigte mir Nilüfer Hanim an, dass es am Abend etwas „voll“ werde in der Wohnung. (Ich hatte während meines ersten Aufenthaltes zu erkennen gegeben, dass mich die häufigen Besuche von sehr vielen Leuten doch in meiner teutonischen Art etwas irritiert hätten.) Mein Gastbruder und meine kleine Gastschwester lachten und sagten, dass etwa 25 Frauen kommen würden, um gemeinsam im Koran zu lesen und miteinander zu beten.

Zwei Dinge habe ich in diesem Moment gedacht:

1. 25 Leute zu Besuch … gar kein Problem!

2. Kann ich dabei sein?

Nilüfer hat sofort zugestimmt. Also saß ich am Abend mit auf der großen Dachterasse und wartete der Dinge.

Bis zu den Knöcheln

Zuerst kam meine ehemalige Lehrerin, die Schwiegertochter des Hauses. Sie trug ein nachtblaues, samtig-schimmerndes, langes Kleid mit einem roten Gürtel und ein weinrotes Kopftuch. Eine weitere junge Frau kam herein, ebenfalls in einem schwarzen Kleid mit roten Blumen bestickt und dazu ein rot-weißer Schal um das Haar. Sie brachte ihre Tante mit, die wiederum völlig straßentauglich in Jeans und T-Shirt kam und kein Kopftuch trug.

Nach und nach kamen immer mehr Frauen, die sich sehr höflich in einem bestimmten Ritual begrüßten und sich gegenseitig versicherten, dass es ihnen gut ginge.

Bei den älteren viel mir auf, dass diese nicht mehr ganz so viel Wert auf ihre Kleidung legten, wie die jungen Frauen. Die meisten trugen einen Rock, der  farblich und vom Muster her grenzwertig mit Oberteil und Kopftuch harmonierte. Aber das war egal: Das Aussehen war völlig hinter den Glauben zurück getreten.

So gut ich konnte, fragte ich nochmal in die Runde, ob ich heute abend dabei sein dürfte. Ich wurde völlig bedenkenlos aufgenommen!

„Amin“ – mehr als nur eine Ähnlichkeit

Der Abend verlief ungefähr so:

Nach dem Ruf des Muezzins begann eine der Frauen, die Vorbeterin, laut ein Gebet zu sprechen. Es war eine sich wiederholende Litanei auf arabisch, die mit einer Geste endete, als würden sich die Frauen mit den Händen das Gesicht reinigen.

Anschließend gingen die meisten auf die Gebetsteppiche. Inzwischen hatte sich auch die Tante der jungen Frau einen Rock, eine Bluse und ein Kopftuch übergezogen.

Nach dem Gebet auf dem Teppich verteilte die Frau Gebete auf kleinen Gebetskarten, die die Frauen leise zitierend vor sich hin sprachen.

In einer Pause öffnete eine andere Frau eine große Plastetüte mit verschiedenen Hosen, Kopftüchern, Strumpfhosen etc. Man konnte sich jetzt hier in diesem Kreis ein paar Kleidungsstücke aussuchen. Der Erlös ging an  bedürftige Familien in Izmir.

Immer wieder wurden neue Gebete angestimmt. Gebete, die für mich einem Singsang glichen und aus denen ich immer wieder das Wort „Amin“ heraushörte. Dazu hörten die Frauen aufmerksam zu, nickten ab und zu, schaukelten mit ihren Körpern vor und zurück und hielten ihre Hände wie in einer empfangenden Geste geöffnet nach oben.

Die Vorbeterin übernahm die Lesung aus dem Koran, sowie die Interpretation oder Auslegung der Stelle mit Hilfe eines weiteren Buches. Ich verstand natürlich nicht viel, aber einiges schon. Und ich kam mir vor, wie in einer Jugendbibelstunde in Deutschland. Einer liest aus der Bibel und die anderen hören zu und versuchen zu verstehen.

Es war ein spannender Abend. Ich war Gast und durfte einfach ein Ritual einer anderen Religion erleben. Etwas anderes spielte keine Rolle und stand auch nicht im Raum. Die Vorbeterin sagte irgendwann noch zu mir: „Du bist doch Christin, stimmts? Schau, dieser Abend ist für uns so wichtig, wie für euch Weihnachten.“ Und das wars!

Ich bin um 24 Uhr ins Bett gegangen. Die ersten Frauen gingen früh um vier Uhr nach Hause.

Über bodrumliving

German woman ... totally normal and actually very boring but a bit adventurous lives in Turkey alone. Experiment! Will she survive, integrate or what?
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Eine Antwort zu Religion erlebt: Ein heiliger Abend

  1. Rita schreibt:

    Wie schön, dass Dich Deine Gastgeber und die anwesenden Frauen haben teilnehmen lassen an ihrem muslimischen Ritual.
    Und wie schön, dass Du so neugierig und offen bist und uns Leser teilhaben läßt an Deinen spannenden Einblicken in diese andere Kultur.

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